In China zu leben, bedeutet manchmal ein Leben wie in der Zeitmaschine. Selbst der Alltag ist eine Mischung aus Ursprünglichem und absoluter Moderne und Fortschritt.

Früher musste man mühsam das Wasser vom Brunnen holen, wir alle kennen das aus Erzählungen. Gott nein! Wir mussten in unserem Haus in China natürlich kein Wasser aus dem Brunnen herschleppen. Der Fortschritt dort überflügelt uns in vielem. Auf dem Land, nur wenige Kilometer außerhalb von Peking, ist es allerdings nicht ungewöhnlich, dass mancher Bauer noch heute zur Bewässerung das Wasser in Eimern den Berg hochträgt, mit einem Dreschflegel das Korn drischt und das Korn mithilfe von Mühlstein und Esel gemahlen wird. Gerade dieser Kontrast aus sehr Ursprünglichem und absoluter Moderne und Fortschrittlichkeit, hat mich immer besonders an China fasziniert. Für mich war an China mit am schönsten, immer wieder in vergangene Zeiten und in eine alte Welt hineinspüren zu können, die es leider bei uns so fast gar nicht mehr gibt. 

Neues und altes China – eine faszinierende Kombination

Leben wie in der Zeitmaschine

In China zu leben, bedeutet manchmal ein Leben wie in der Zeitmaschine. Man swichted von einer Sekunde auf die andere zwischen Jetzt, Vergangenheit und Zukunft. Wenn die Eselkarre dem Porsche hinterherzuckelt, wenn man von den Großstadtstraßen in die Hutongs (alte Wohnviertel mit traditionellen Courtyardhäusern) abbiegt, beim Ausflug ins Umland von Peking, oder bei Reisen durchs Land. Ein Entwicklungssprung macht in China seinem Namen alle Ehre, da er manchmal ein bis zwei Hürden auf einmal nimmt und manches – was bei uns Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauerte – einfach so überspringt und zeitweise sogar direkt in der Zukunft landet und einem das Gefühl eines Marty McFly vermittelt.


 

Dorf in der Bergwelt in der Nähe von Peking

Während unserer Zeit in China, war zum Beispiel die automatische Abbuchung von Strom, Wasser, Gas und Telefon alles andere als normal. Hintergrund dafür, man muss erst einmal in Vorleistung gehen, um Strom, Wasser, Telefon und Gas zu beziehen. Letztendlich ist das noch heute so, allerdings hat sich die Abwicklung gravierend geändert. Strom, Wasser, Gas und Telefon wurde bei uns über eine Art Prepaidsystem abgerechnet. Das bedeutete, es gab jeweils eine Karte, die mit einem Guthaben gefüllt wurde. Mit diesen Karten wiederum, konnte das Guthaben an den Wasser-, Strom- oder Gaszählern im Haus oder in der Wohnung aufgefüllt werden. 

Und täglich grüßt das Murmeltier

Das Aufladen dieser Karten übernahm bei uns der Landlord (Vermieter). Hört sich simpel an, die Realität war alles andere als das. Üblicherweise benötigte es mehrere Anrufe und mindestens einen einwöchigen Vorlauf, da er häufig auf Reisen war. Die Besuche des Landlords wurden seinem Namen allemal gerecht. Grundsätzlich tauchte er nie, ohne seine Entourage aus Familienmitgliedern und Clubhausmitarbeitern bei uns auf. Das Ganze war jedoch nicht mit einem kurzen Besuch erledigt. Es setzte sich aus einer gleichermaßen aufwendigen, wie komplizierten Besuchsreihe zusammen. Erst tauchten alle gesammelt bei uns im Haus auf, um die Karten abzuholen und den aktuellen Stand der Karten zu prüfen. Die verschiedenen Aufladestellen waren durchs Haus verteilt, das bedeute jedes Mal eine Prozession durchs gesamte Haus.

Nachdem das Begrüßungsritual mit „Nǐ hǎo!“ (Guten Tag), „Qǐng jìn“ (Bitte eintreten!) … usw. absolviert war, zogen wir alle zusammen durchs Haus, und es gab nicht nur ein Update des Ladezustands der Karten, sondern es wurden angemessen Höflichkeiten und Nachfragen nach Gesundheit und sonstigen Befindlichkeiten und Ereignissen ausgetauscht. „Nǐ hǎo ma?“ (Wie geht es?), „Nǐde háizi hěn hǎo ma?“ (Geht es den Kindern gut?) „Nǐ shūfu zài Beijing?“ (Fühlen sie sich wohl in Peking?) …

War dieser Vorgang absolviert, verschwanden alle zur Bank und ins Clubhaus um dort, an den jeweiligen Stellen, die Karten aufzuladen. Irgendwann tauchten alle gesammelt wieder auf und die Prozession durchs Haus ging aufs Neue los. Zudem ist es üblich, nie mit Straßenschuhen das Haus zu betreten. Jeder Handwerker oder Compoundmitarbeiter zieht sich vor dem Betreten des Hauses blaue Plastikschluppen über die Schuhe, was im Generellen absolut zu begrüßen ist. Allerdings bedeutet es auch jedes Mal beim Kommen, rein in die blauen Schuhüberzieher und beim Gehen alles wieder ausziehen, beim nächsten Mal die gesamte Mannschaft wieder rein in die blauen Schuhschlüpper und wieder raus …

Fast immer kam es beim Aufladen zu irgendwelchen Komplikationen, die sich mir nie wirklich ganz erschlossen. Ich bekam immer nur einen regen Austausch in Chinesisch mit, bei dem mein begrenzter Chinesisch-Wortschatz, definitiv nicht ausreichte. Mir wurde immer in Englisch ein kurzer Abriss der vorangegangenen zehnminütigen Diskussion mitgeteilt wie …  „We have to go back and recharge again.“, oder „Sorry, the card for electricity is broken.” … oder … „We have to send some worker, because with the gaspipe is something wrong.”… Irgendwann war aber auch das wieder geschafft und wir mussten nicht frieren, konnten kochen, telefonieren und saßen nicht im Dunkeln.

Im Alltag bedeute das für mich, die Zähler immer mit Argusaugen im Blick zu behalten und dafür zu sorgen, dass rechtzeitig die Karten aufgeladen wurden. Und die Betonung liegt hier auf rechtzeitig. Neigten sich die Reserven dem Ende zu, so musste ich die Karten zum Aufladen in den Schlitz neben den Zähler stecken. Das klingt reichlich unspektakulär, war es aber nicht. Für mich bedeutete es regelmäßig im Keller in den hintersten Heizungsraum zu kriechen, meine Spinnenphobie sowie das Zischen und Toben des „Made in China“-Gasheizkessels zu ignorieren und so schnell wie möglich den Zählerstand zu überprüfen, oder die Karten in den Zähler zu stecken, um sofort wieder fluchtartig diesen Ort des Grauens zu verlassen. Immer wenn die schwere Metalltüre hinter mir zuknallte, war ich froh, dass ich wieder dem Heizschlund entronnen war. Wer Kevin allein zu Haus kennt und sich erinnert, wie er sich vor dem Heizofen im Keller gefühlt hat, kann annährend nachempfinden, wie ich mich jedes Mal gefühlt habe.


Verkehrsalltag in Peking

Das Stromaufladen gestaltete sich wesentlich einfacher. Da musste ich nur unsere Garderobe im Flur komplett ausräumen, den Holzdeckel aus der Rückwand stemmen, in den Schrank kriechen, die linke Wange fest an die Rückwand drücken und den Kopf etwas nach oben drehen, so konnte ich ganz leicht den Zählerstand ablesen. Den Strom aufladen konnte ich, indem ich mich im Schrank weit, gaaanz weit, nach oben streckte, nach dem Zähler und dem Einschubschlitz tastete, um dann seitlich die Karte einzuschieben. War dies erledigt, so hatte man wieder für kurze Zeit Wasser, Strom, oder Gas zur Verfügung. Waren die Karten leer, so galt das Motto „Und täglich grüßt das Murmeltier“.

Ernstfall

Das Telefon konnten wir irgendwann selbst im Clubhaus des Compounds – an einer Art Bankcomputer – aufladen. Mit chinesischen Schriftzeichen wurde man durchs Menu geführt, was bei mir regelmäßig zu Wutanfällen und für Frustmomente sorgte. Denn zu Anfang meiner Chinazeit sahen alle Schriftzeichen für mich einfach nur gleich aus. Trotz erhöhter Achtsamkeit geschah das Unvermeidbare … Immer wieder waren wir ohne Telefonverbindung! Das zog äußert unangenehme Konsequenzen nach sich. Zum einen hatten wir kein Internet, das war bereits äußerst ärgerlich und nervig. Telefonisch nicht mehr erreichbar zu sein, hatte dagegen weit unangenehmere Folgen. Fatal daran war nicht, dass wir in dieser Zeit sozial verkümmerten, sondern es bedeutete, dass die Guards am Tor keine Besucher melden konnte. Wir lebten in einem Compound, einem Wohnviertel, das umzäunt ist und bewacht wird. Besucher können nur nach vorheriger Anmeldung zu Besuch kommen. Dachten die Guards mit, kamen sie zu unserer Haustür und klingelten, um den Besucher persönlich anzukündigen. Taten sie dies nicht – was leider meistens der Fall war – gab es keinerlei Einlass für unsere Besucher. Eine Freundin von mir musste dies einmal bitter büßen. (Mehr dazu in meinem Blogpost Wohnen in Peking)

Unser Compound – Einlass gab es nur mit Voranmeldung

Ging das Gas aus, gab es zwei deutliche Merkmale, an denen wir festmachen konnten, es ist soweit. Entweder prasselte beim Duschen das Wasser eiskalt auf uns nieder und mit der Schnappatmung kam gleichermaßen die Erkenntnis – Das Gas ist leer! Oder wenn unsere Ayi (Haushaltshilfe) durchs Haus brüllte: „Meiyo qiti! Bu kei gongzuo!“ Was soviel heißt wie: „Es ist kein Gas mehr da, ich kann nicht mehr kochen!“

Die Felder sind im Bergland oft schwer zugänglich und es wird häufig per Hand bewässert
Haus in den Bergen

Am deutlichsten bekam jedoch unser Besuch – zwei Freundinnen aus Deutschland – die Auswirkungen zu spüren. Ich stand abends in der Küche am Herd, die Kinder spielten im Kinderzimmer, unser Besuch war oben im Gästezimmer und eine der Freundinnen gerade unter der Dusche, als das Licht ausging und wir alle schlagartig im Dunkeln standen.„Mamaaa! Ich seh niiiichts meeehr!!! Das Gebrüll wechselte sich ab mit einem wiederholten: „HALLO!“ „Kann mir jemand ein Handtuch bringen! Es ist stockdunkel!“

Was tun, was tun … ? Ich stand im Dunkeln vor dem Herd und atmete gegen meine Panikattacke an. Nach dem ersten Schock, bekam ich wieder Luft und nachdem mein Gehirn nun wieder besser mit Sauerstoff versorgt war, fiel mir zumindest ein, was ich als Nächstes tun musste. Ich drehte das Gas vom Herd ab und tastete mich bis zum Eingang durch. Dort hatte ich wohlweislich – für den Ernstfall – eine Taschenlampe deponiert. Ich war unglaublich erleichtert, als ich sie sofort fand. Doch sie brannte nicht, die Batterien waren vermutlich leer. Schließlich wohnten wir bereits zwei Jahre dort und der Stromernstfall war nie eingetreten – bis heute! Panikattacke die zweite!! Was nun? Ich überlegte fieberhaft. Ach ja, oben im zweiten Stock hatte ich in meiner Nachttischschublade eine weitere Taschenlampe hinterlegt. Im Haus war es inzwischen still geworden. Ich wusste noch nicht so recht, ob ich erleichtert oder beunruhigt sein sollte.

Ich tastete mich durchs stockdunkle Haus. Als ich im 1. Stock beim Gästezimmer ankam, tönte mir inzwischen „Kleine Taschenlampe brenn …“ entgegen. Die Mädels sowie meine klatschnasse Freundin, waren dank meiner geistesgegenwärtigen zweiten Freundin, mit Handtuch und Gesang gerettet. Sie saßen zusammen auf dem Gästebett und sangen dort gemeinsam lauthals den Song von Markus. Zumindest die emotionale Krise war im Griff.

Ich tastete mich weiter die Treppe hoch bis zum Schlafzimmer im zweiten Stock und wühlte dann fieberhaft in meiner Nachttischschublade. Da war die Taschenlampe! Mit zitternden Fingern drehte ich an ihrem Ende und … sie brannte!! Mit der Lampe in der Hand hoffte ich auf weitere Erleuchtung und setzte mich erst mal aufs Bett um zu überlegen. Wie sollte ich nun weiter vorgehen? Erst mal die Stromkarte suchen, die hoffentlich an ihrem Platz lag und dann den üblichen Ablauf … Garderobe ausräumen, Holzplatte von der Rückwand stemmen …

An diesem Tag war wenigstens nicht der absolute Worst Case und die Stromkarte kein Guthaben gehabt hätte. Tatsächlich war mir das einmal passiert, allerdings tagsüber, mit der Gaskarte. Die Clubhauscrew hatte sich äußerst hilfreich gezeigt und sich ums Aufladen und die Abwicklung später mit dem Landlord gekümmert und so hatten wir nach wenigen Stunden wieder Gas. Doch die Vorstellung eine Nacht ohne Strom, im Dunkeln …

Ständig gewahr zu sein, dass alles aufgeladen ist, fand ich zeitweise sehr stressig. Heute sieht das ganz anders aus. Noch immer wird erst in Vorleistung gegangen, allerdings wird alles per App geregelt.

Relikte aus der alten Zeit – wunderschön und fast ein Kunstwerk

Per Wunderapp in die Zukunft

WeChatist das Zauberwort bzw. wohl eher die Zauberapp. Die WeChatApp oder auch chinesisch wēixìn genannt, heißt soviel wie winzige Nachricht, was eine maßlose Untertreibung ist. Mit dieser chinesischen WhatsApp-Variante kann nicht nur trivial gechattet, telefoniert, Bildchen, Sprachnachrichten und Filme versendet werden, sie hat außerdem einen Nachrichtenstream, ähnlich der Facebook Chronik und man kann Spiele spielen. Mit dem integrierten WeChatPay kann man außerdem nahezu alles bezahlen, selbst Kleinigkeiten an Straßenständen und immer mehr seinen Alltag organisieren wie z.B. Lebensmittel oder ein Taxi bestellen, das Essen beim Lieferdienst ordern, Arzttermine buchen, Jobs suchen, die Restaurantrechnungen oder eben Wasser, Strom, Gas und die Telefonrechnung bezahlen. 


Selbst am Straßenstand kann man per App bezahlen

Durch diese kleine App verändert sich vieles, es erleichtert eine Menge. Doch wie so oft, wenn es Neuerungen gibt, werden wir Menschen nostalgisch. Diese Wunderapp hätte mir sicherlich vieles während unserer Chinazeit erleichtert. Doch manch verrücktes Erlebnis möchte ich trotz allem nicht missen, genau wie das alte China, das immer mehr der Moderne weicht. 

Und so geht es weiter … Unser erster Ausflug in Peking führte uns zum Sommerpalast. Was wir bei unserem Ausflug erlebten und weshalb der Sommerpalast zu unsere absoluten Lieblingsausflugszielen zählte, davon mehr beim nächsten Mal …

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